Paul Radu ist Mitgründer des Organized Crime and Corruption Reporting Project (OCCRP).
Wir durften ihn in diesem Jahr als Speaker bei der Doxumentale begrüßen und mit ihm über globale Korruptionsnetzwerke, die verschwimmende Grenze zwischen Journalismus und Aktivismus – und darüber sprechen, warum nur grenzüberschreitende Zusammenarbeit die Strukturen offenlegen kann, die Macht schützen.
Paul Radu ist Mitgründer und geschäftsführender Direktor des Organized Crime and Corruption Reporting Project (OCCRP), einem globalen Netzwerk investigativer Journalist*innen, das hochrangige Korruption, Finanzkriminalität und die transnationalen Strukturen aufdeckt, die solche Verbrechen ermöglichen.
Als investigativer Journalist und Mitgründer des Organized Crime and Corruption Reporting Project sehe ich unsere Arbeit nicht als Aktivismus. Investigativer Journalismus ist kein Aktivismus – aber er ist Teil einer größeren, umfassenderen Erzählung, in der Aktivismus durchaus eine Rolle spielt.
In meiner Organisation arbeiten wir deshalb gezielt mit Aktivistinnen zusammen, um die Wirkung investigativer Recherchen zu verstärken – das nennen wir evidenzbasierten Aktivismus.
Journalistinnen liefern die Beweise, und Aktivist*innen nutzen diese, um ihre Kampagnen, ihre Argumentation, ihren Aktivismus darauf aufzubauen.
Diese Synergie – dieses Zusammenspiel von investigativem Journalismus und Aktivismus – ist sehr kraftvoll und gehört letztlich auch zur Geschichte, die erzählt wird. Aber der investigative Journalismus für sich genommen ist kein Aktivismus.
Die grundlegendste Frage, die man sich als investigativer Journalistin am Anfang stellen sollte, ist:
Dient die Geschichte, an der ich arbeite, dem öffentlichen Interesse? Inwiefern nützt sie der Gesellschaft?
Diese Frage muss man sich stellen, bevor man überhaupt mit der Recherche beginnt. Und es ist eine Geschichte, die sich aufbaut – man macht nicht heute eine große Enthüllung und springt morgen zur nächsten. Man baut aufeinander auf.
Wenn man zum Beispiel einen Korruptionsfall in Berlin aufgedeckt hat, fragt man sich sofort: Vielleicht habe ich diesen einen Fall aufgedeckt, aber es gibt möglicherweise zehntausende ähnliche – nicht nur in Berlin, sondern in anderen Städten, in Deutschland, Europa oder weltweit.
Der Gedanke muss also immer sein: Wie kann ich meine Arbeit noch stärker am öffentlichen Interesse ausrichten?
Wenn man diese Frage klar beantworten kann – so profitiert die Öffentlichkeit von meiner Arbeit – dann wird die Recherche wirkungsvoller und der eigene Einsatz lohnender.
Wenn es um Kriminalität und Korruption geht, wiederholen sich bestimmte Muster ständig.
Wenn ein Krimineller sieht, dass eine bestimmte Methode in einem Land funktioniert, wird er sie überall anwenden – immer wieder, auf die gleiche Weise.
Das gilt für korrupte Politiker, Unternehmen, Hacker – und leider auch für Journalist*innen. Auch in den Medien gibt es durchaus Korruption.
Sobald man ein Muster erkennt, ist es wichtig, es mit anderen Journalist*innen zu teilen und gemeinsam, grenzüberschreitend, die größere Geschichte dahinter aufzudecken.
Denn es gibt immer eine größere Geschichte. Der Fall, den man gerade untersucht, ist meist Teil eines umfassenderen Systems – eines Systems von Korruption, eines Systems zur Umverteilung öffentlicher Gelder und Interessen.
Deshalb ist es so wichtig, investigativen Journalismus immer in ein größeres Bild einzuordnen – gemeinsam mit anderen Journalistinnen, aber auch mit Aktivistinnen und Menschen aus anderen Bereichen, die gemeinsam an einer besseren Gesellschaft arbeiten.
Aus unserer Sicht ist das eigentlich ganz einfach:
Wenn es um hochrangige Korruption geht – also die Art von Korruption, die ganze Länder ausplündert und Menschen um Milliarden bringt –, dann ist sie immer transnational.
Das Problem ist: Nationalstaaten haben eigene Strafverfolgungsbehörden – aber diese Behörden dürfen nur innerhalb ihrer Landesgrenzen ermitteln. Sie werden von den Steuerzahlerinnen ihres jeweiligen Landes bezahlt.
Wenn also ein Politiker ein Netzwerk nutzt, um in Land A Geld zu stehlen und es in Länder B und C zu investieren, dann gibt es keine staatliche Stelle, die diesen Fall vollständig aufklären kann – außer investigative Journalisti*nnen und Aktivist*innen.
Unsere größte Schwäche ist also der Mangel an echter, grenzüberschreitender Zusammenarbeit. Das wiederum lässt viel Raum für Kriminelle, die sehr wohl international kooperieren.
Man stelle sich vor: Iranische und israelische Ermittler arbeiten zusammen, um einen Korruptionsfall aufzuklären, der beide Länder betrifft. Undenkbar. Aber genau das tun Kriminelle – mit völliger Straflosigkeit.
Wir haben das auf dem Balkan gesehen: Während es politische Spannungen zwischen Serben und Kosovaren gab, arbeiteten Waffen- und Drogenschmuggler von beiden Seiten problemlos zusammen. Diese Leute interessiert nur das Geld. Der Mangel an internationaler Zusammenarbeit ermöglicht es diesen Netzwerken, zu florieren – und wieder sind es vor allem Journalistinnen und Aktivistinnen, die versuchen, sie zu stoppen.
Investigativer Journalismus spielt eine zentrale Rolle.
Wir sind diejenigen, die Korruption sichtbar machen können. Wir arbeiten mit Daten und erzählen Geschichten, um den Kontext zu erklären – also das Warum hinter der Korruption.
Ein Beispiel: Eine Milliarde Dollar wurde aus Ghana gestohlen.
Wenn dieses Geld durch eine Schweizer Bank geschleust wurde, fragt man sich automatisch: Moment – diese Bank bewegt Billionen. Wie viel anderes schmutziges Geld ging noch durch ihre Bücher?
Investigative Journalist*innen sind diejenigen, die eine Art Bauplan entwickeln können, um systemische Korruption aufzudecken – Korruption, die von Banken und Strukturen ermöglicht wird, die nicht im Interesse der Öffentlichkeit handeln.
Das ist eine sehr schwierige Frage.
Bei OCCRP sehen wir uns nicht als Aktivist*innen, sondern bleiben investigative Journalist*innen. Gleichzeitig besteht unser Netzwerk aus 70 Investigativzentren weltweit – und die kulturellen Kontexte unterscheiden sich.
Manche Journalist*innen sind in ihren Ländern auch Aktivist*innen – und ich finde, das ist nicht falsch.
Es hängt vom Kontext ab, vom Moment, von der Kultur eines Landes.
Wir werden allerdings dann aktivistischer, wenn unsere eigene Branche angegriffen wird – wenn Journalist*innen schikaniert, verhaftet, festgehalten oder getötet werden. Dann lassen wir auch bei OCCRP Aktivismus zu.
Das heißt aber nicht, dass wir jemandem verbieten würden, sich als Aktivist*in zu engagieren. Das wäre nicht richtig.
Es ist wichtig, solche Diskussionen zu führen: Warum wurde dieser Reporter in Peru oder Ecuador in einem konkreten Fall zum Aktivisten?
Wir schließen niemanden aus dem Netzwerk aus, weil er oder sie in einem Fall aktivistisch geworden ist.
Es gibt viele unterschiedliche Situationen und Geschichten. Manchmal diskutieren wir – auch hitzig – darüber, was noch investigativer Journalismus ist und was bereits Aktivismus.
Diese Debatte ist wichtig. Es gibt keine goldene Regel. Die Dinge verändern sich.
Am Ende des Tages arbeiten wir alle im öffentlichen Interesse.
Und wenn das öffentliche Interesse dient – dann ist das, was zählt.