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In ihrem Dokumentarfilm „Curtains“ stellt sich Regisseurin Alina Cyranek dem oft verschwiegenen Thema häuslicher Gewalt – einer Realität, die Millionen betrifft. Im Interview spricht sie über die Beweggründe für den Film, ihren künstlerischen Zugang und darüber, was sich gesellschaftlich und politisch dringend ändern muss.
Durch die Istanbul-Konvention zur „Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“, die 2018 in Deutschland in Kraft getreten ist, haben die Medien Gewalt an Frauen tatsächlich häufiger thematisiert. Auch ich habe die Statistiken zur häuslichen Gewalt stärker wahrgenommen. Ich war entsetzt und alarmiert zugleich – laut Statistik können das keine „Einzelfälle“ sein, es muss ein strukturelles Problem sein. Ich wollte wissen, welche gesellschaftlichen und politischen Machtstrukturen die Sicherheit von Frauen verhindern oder gar begünstigen. Also nahm ich Kontakt zu Menschen auf, die in Berufen arbeiten, in denen sie betroffenen Frauen begegnen: Polizistinnen und Polizisten, Ärztinnen, Sozialarbeiterinnen und -arbeiter, Psychologinnen und Rechtsanwältinnen. Auch mit einer Kommunikationswissenschaftlerin habe ich gesprochen, die die Darstellung von Gewalt an Frauen in den Medien in Zeitungsartikeln analysiert hat. Und natürlich habe ich mit betroffenen Frauen gesprochen.
Eine Tatsache ist, dass sich alle Gewaltbeziehungen exakt nach dem gleichen Muster entwickeln, lediglich die Umstände, die Art der Gewaltanwendung und ihre Intensität variieren. Für mich waren die individuellen Erzählungen ausschlaggebend, die Worte, welche die Frauen für das Erlebte gefunden haben. Auch die persönliche Wellenlänge hat eine Rolle gespielt. Ich bin mit allen Frauen weiterhin in Kontakt, es hat sich zum Teil eine freundschaftliche Ebene daraus entwickelt.
Alle Frauen spüren ein großes Verantwortungsbewusstsein. Sie möchten nicht, dass das, was ihnen widerfahren ist, anderen Frauen widerfährt. Sie möchten aufklären, warnen, das Thema mehr in die Öffentlichkeit bringen. Ich würde schon sagen, dass unsere Gespräche etwas Therapeutisches hatten. Es tat ihnen gut, sich zu öffnen und einen zuhörenden, nicht verurteilenden Gegenüber zu haben. Einige der Frauen steckten noch in Gerichtsverfahren, bei denen sie als Zeugin vernommen wurden. Während laufenden Gerichtsverfahren dürfen die Zeuginnen keine Traumatherapie beginnen, sondern werden lediglich psychotherapeutisch stabilisiert, um das Narrativ nicht zu verfälschen. Das ist natürlich verheerend, wenn man bedenkt wie viele Jahre sich diese Gerichtsverfahren ziehen können.
Ich bin in mir recht stabil, bin grundsätzlich es sehr positiver, fröhlicher Mensch. Schwere Themen, die oftmals viele von uns betreffen, aber selten in der Öffentlichkeit stehen, interessieren mich: Einsamkeit, Stillgeburten, gebrochene Biografien. Mich berühren die Geschichten sehr, ich weine regelmäßig mit meinen Protagonistinnen und Protagonisten, wir lachen aber auch viel. Bisher haben immer die schönen, positiven Seiten überwogen. Das Leben geht weiter, wir alle müssen lernen, mit dem Schmerz, der Trauer, den Verlusten umzugehen und ihn in unser Leben zu integrieren.
Meine Filme sind häufig Hybride. Das Wichtigste für mich war, die Frauen nicht in irgendwelche Schubladen aufgrund ihres Alters, Aussehens, Dialektes, sozialen Statuses oder ihres Hintergrunds zu stecken und sie wieder zu Einzelfällen zu machen. Ich wollte von irgendwelchen „Frauentypen“ wegrücken. Es ist ein strukturelles Problem, kein individuelles. Außerdem mussten sie unbedingt anonym bleiben und durch Filmaufnahmen nicht retraumatisiert werden.
Formell geht im Film um Kontraste zwischen Innen und Außen, Privatem und Öffentlichem, Glauben und Fakten, Emotionalität und Objektivität, psychischer und physischer Gewalt. All diese Aspekte sollten nicht bebildern, sondern vielmehr Assoziationsräume entfalten und in Kontrast mit den präzise kadrierten, sachlichen Experteninterviews stehen. Tanz wird als nonverbale Darstellungs- und Ausdrucksform genutzt, um innere Gefühlszustände oder Paardynamiken zu beschreiben. In der Inszenierung des Körpers und seiner Bewegung haben ich die besten Möglichkeiten gesehen, die eigenen physischen Grenzen, Energien, Gefühle, Gedanken, Vorstellungen, innere Einstellungen und Erinnerungen auszuloten, die ohne Worte in Bewegung „versetzt“ werden konnten.
Die Rolle der Animation spiegelt den mentalen Zustand der Frau wider: manipuliert, eingegrenzt, verschoben, ausgelöscht, surreal. Dazu haben wir einzelne Filmsequenzen auf entsprechendes Papier ausgedruckt und bearbeitet. Zusammen mit der Animationskünstlerin Aline Helmcke haben wir drei Techniken für die Manipulation der Stills festgelegt: Knüllen, Reißen und Kratzen. Unter dem Tricktisch lässt sich die Animation nur bis zu einem gewissen Grad kontrollieren, das hat uns inhaltlich wunderbar in die Hände gespielt. Die damit verbundene Haptik, das Physische, war mir in darüber hinaus für den gesamten Film wichtig: Die Musik wurde mit den verschiedensten Instrumenten eingespielt, das Sounddesign besteht aus Geräuschen von haptischen Materialien, die Grafiken sind handgezeichnet.
Schon in der Stoffentwicklung hatte ich Sandra als Sprecherin im Kopf. Ich wusste, dass sie die nötige Authentizität für das lyrische Ich erschaffen konnte. Sandra kann die inneren Gefühlswelten zwischen Zerbrechlichkeit, Zerrissenheit und mentaler Stärke so subtil ausfüllen, dass ich in ihrer Narration immer die dahinterstehenden Frauen erkennen kann. Die Stimme des lyrischen Ichs braucht Verletzlichkeit, Liebe, Güte, Zweifel, Hilflosigkeit und Mut – Eigenschaften, die Sandra in ihren Rollen immer verkörpert.
Ich hoffe wirklich, dass der Film draußen weitergeht: In Gedanken, Gesprächen, Empfehlungen. Über Tabuthemen zu sprechen ist immer der erste Schritt zu einer Veränderung. Wenn auch nur eine Frau den Entschluss fasst, die Gewaltbeziehung, in der sie steckt, zu beenden, hat sich die Arbeit schon gelohnt. Wenn ein Mann sein Verhalten ernsthaft hinterfragt, hat sich die Arbeit gelohnt. Wenn Menschen sensibler in ihrem Umfeld hinschauen, Fragen stellen, Unterstützung anbieten, hat sich die Arbeit gelohnt.
Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht, warum niemand im großen Stil gegen Gewalt an Frauen auf die Strasse geht, warum die Empörung nicht groß genug dafür ist, warum Männer sich bei dem Thema nicht zuständig fühlen. Eigentlich ist der Schutz für betroffene Frauen an allen Stellen mangelhaft: Es gibt zu wenig Frauenhäuser, die Beratungsstellen sind unterbesetzt, die Familiengerichte sind überlastet, es gibt kaum Prävention.
Die Tragweite der Zahlen wird einem erst bewusst, wenn man im eigenen Büro, im Restaurant oder auf einer Familienfeier durchzählt: Jede dritte Frau ist oder wird mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt durch ihren Partner oder Ex-Partner. Jeden Tag wird eine Frau aufgrund ihres Geschlechts getötet. Die Kollegin, die Freundin, die Cousine, oder sogar man selbst. Das Selbstverständnis, mit dem die Politik und Gesellschaft der Gewalt begegnet und kleinredet, muss sich grundlegend ändern. Ist das, was in der eigenen Wohnung passiert, wirklich Privatsache? Die Polizei, das medizinische Personal, das Rechtssystem brauchen regelmäßige, verpflichtende Weiterbildungen, um bei Fällen von häuslicher Gewalt angemessen und sensibel reagieren zu können. Für die Täten muss müssen Konsequenzen folgen – das ist leider eher die Ausnahme als die Regel. Für mich wäre aber der größte Hebel, wenn Männer anfangen würden sich zuständig zu fühlen: Es ist schließlich kein Frauenproblem, sondern ein Männerproblem.