María José Díaz und Francisca Silva sind die Visionärinnen hinter Ancestral Secret VR, einer virtuellen Welt, die indigene Erzählkunst mit modernen Technologien verbindet. Ein tiefgreifendes, immersives Erlebnis zwischen Tradition, Spiritualität und Innovation.
María José: Indigenes Wissen und seine Geschichten sind so faszinierend, dass sie auf viele verschiedene Arten erzählt werden können. Ancestral Secret VR ist die Virtual-Reality-Version einer Serie der chilenischen Produktionsfirma La Ventana Cine, die Mythen, Heiltraditionen und Geschichten von zehn indigenen Gemeinschaften in Nord- und Südamerika aufgreift – jede einzelne davon ist absolut beeindruckend.
Für dieses VR-Projekt haben wir uns entschieden, uns auf das Volk der Q’ero zu konzentrieren. Von Anfang an war klar: Das muss ein gemeinsamer Schaffensprozess werden. Wir wollten ihre Geschichte mithilfe von VR erzählen, um tiefer einzutauchen und eine emotionalere, immersivere Erfahrung zu schaffen als in der Serie. Mit dieser Erfahrung wollten wir ein wenig von dem Gefühl einfangen, das wir selbst bei unserem Besuch vor Ort hatten: mit Respekt und Demut in ihre Welt einzutreten – und die Ehre zu haben, willkommen geheißen zu werden.
Francisca: Was mich besonders fasziniert, ist, wie eine so moderne Technologie – die viele als „Zukunft“ sehen – zu einer Brücke in die Vergangenheit wird. Sie schenkt alten Traditionen eine neue Bedeutung. Diese Kulturen wurden historisch oft als „rückständig“ bezeichnet. Doch heute, inmitten globaler Krisen, erleben wir ein wachsendes Bewusstsein dafür, wie wertvoll ihr Wissen ist – etwa die Art und Weise, wie das Volk der Q’ero mit der Natur, den Bergen und den Geistern kommuniziert.
María José: In gemeinsamen Workshops haben wir zusammen mit der Gemeinschaft die wichtigsten Elemente herausgearbeitet, die unbedingt gezeigt werden sollten: die Kokablätter, das Wasser, die Apus (Berggeister), die traditionellen Textilien und die rituellen Opfergaben. Diese Dinge haben eine tiefe spirituelle Bedeutung und stehen für die Verbindung der Q’ero zu etwas Größerem.
Daneben gab es auch Vorschläge von unserer Seite – eher im Hinblick auf die Erzählweise oder technische Umsetzung. All das wurde gemeinsam mit Adrián Huamán besprochen, einem geschätzten Freund, jungen Anführer und spirituellen Vermittler der Q’ero-Gemeinschaft.
Bei vielen Dingen waren wir uns schnell einig. Aber bei einigen bat er uns, sie nicht übermäßig mystisch oder übertrieben darzustellen, sondern authentisch und respektvoll. Er legte auch Wert darauf, dass Animationen dezent bleiben – damit die spirituelle Tiefe nicht verloren geht.
María José: Bei unserer ersten Recherchereise 2019 konnten wir erste echte Verbindungen zur Gemeinschaft und Vertrauen aufbauen. Unser Ansatz war geprägt von Respekt, Offenheit und Achtsamkeit. Vertrauen zu gewinnen dauerte seine Zeit, war aber nicht schwierig – weil wir mit ehrlichem Interesse und einem offenen Herzen kamen. Wir schufen Raum, in dem sie teilen konnten, was sie wollten. Die Idee, ein gemeinsames Projekt zu entwickeln, wurde damals mit Freude angenommen.
Bei unserem zweiten Besuch, zwei Jahre später, stand das gemeinsame Erarbeiten und Filmen im Mittelpunkt. Wir hatten zwar ein komplettes Workshop-Programm vorbereitet – aber vor Ort ließen wir fast alles los. Statt geplanter Abläufe öffneten wir uns dem, was sie uns zeigen wollten. Wir machten ihre Rituale mit und sprachen über unser Leben, unsere Träume und unsere Arbeit. Es war ein Miteinander, ein Austausch auf Augenhöhe.
Wir zeigten der Gemeinschaft frühere Projekte von uns und andere VR-Erlebnisse, damit sie sich ein Bild von dem Medium machen konnten – viele hatten vorher noch nie eine VR-Brille gesehen. Wir malten, spielten und lachten viel. Am Ende war es vor allem eines: eine geteilte Erfahrung. Diese Haltung hat das ganze Projekt geprägt.
Francisca: Ein Moment ist mir besonders in Erinnerung geblieben: An einem Drehtag regnete es unaufhörlich – und gerade an diesem Tag wollten wir die Szene mit der Opfergabe drehen. Wir machten uns auf den Weg zu einem der höchsten Punkte der Region, von dem aus man alle Berge sehen kann. Aber als wir ankamen, war alles in dichte Nebelschwaden gehüllt – man sah kaum etwas.
Wir hatten vorher mit Marcelino gesprochen, einem Pampamisayoc (spiritueller Andenführer), der eigens für diesen Moment eine Opfergabe für die Apus vorbereitet hatte. Es gibt Gaben an Pachamama, also Mutter Erde, und solche, die speziell für die Berge bestimmt sind – so wie diese.
Was dann geschah, war einfach magisch. Während das Ritual stattfand, begann sich der Nebel langsam zu lichten – als würde er selbst auf die Zeremonie reagieren. In der fertigen VR-Erfahrung sieht man genau diesen Moment: wie sich die Landschaft nach und nach öffnet und die Berge sichtbar werden.
María José: Unser Ziel ist es, das ursprüngliche Versprechen dieses Projekts einzulösen: Die Botschaft der Q’ero soll möglichst viele Menschen auf der Welt erreichen. Wir möchten bekannt machen, dass es am Fuß des Ausangate einen Ort gibt, an dem Menschen im Einklang mit der Natur leben – und dass wir alle gemeinsam Verantwortung tragen, diese Natur zu schützen.
Es geht darum, einen Samen zu säen. Einen Samen, der bewirkt, dass wir der Natur mit Respekt begegnen – mit Achtsamkeit, Demut und Dankbarkeit. Dass wir erkennen: Die Natur ist größer und kraftvoller als wir, – und verdient unseren Schutz.
Genau darum geht es in diesem Projekt: dass Kulturen sich begegnen, voneinander lernen und Allianzen bilden – für ein gemeinsames, gutes Leben. Gerade in Zeiten des Krieges ist es wichtig, diese Form der Verbindung zu spüren – das Bedürfnis, in gegenseitigem Respekt und Liebe mit anderen und mit unserer Umwelt zusammenzuleben.
Francisca: Ein zentrales Ziel in der Verbreitung ist es, Ancestral Secret VR in Schulen zu bringen. Indigenes Wissen ist im heutigen Bildungssystem oft kaum noch präsent – und wenn, dann meist oberflächlich und ohne echten Bezug zur Lebenswelt dieser Gemeinschaften.
Dabei sind Schüler*innen die Zukunft und wir möchten gerade sie erreichen. Neben der VR-Erfahrung wollen wir deshalb begleitende Bildungsformate entwickeln. VR soll nicht nur als immersives Medium verstanden werden, sondern als Impulsgeber für gemeinsames Lernen, Austausch und tiefere Auseinandersetzung.
María José: In vielen Teilen der Welt herrscht noch immer eine koloniale Denkweise: Indigene werden oft als „hilfsbedürftig“ oder „ungebildet“ dargestellt, als müssten sie missioniert oder integriert werden – nach Maßstäben, die ihnen von außen aufgezwungen werden. Genau das hat enormen Schaden angerichtet – nicht nur bei den Q’ero, sondern zum Beispiel auch bei den Mapuche in Chile und vielen anderen indigenen Gemeinschaften, die ihre eigenen Werte, Rituale, Territorien und Weltanschauungen haben.
Unser Projekt will nicht exotisieren oder idealisieren, sondern sichtbar machen, dass der respektvolle, demütige Umgang der Q’ero mit der Natur uns allen etwas zu sagen hat.
Francisca: Mich berührt die Feinfühligkeit, mit der die Q’ero mit der Natur in Beziehung treten – sie hören ihr zu und werden selbst gehört. Diese Haltung ist zutiefst bewegend. Bei den Q’ero beginnt alles mit Dankbarkeit. Der erste Schritt ist immer ein Dank: für das Zusammensein, für das Essen, für jedes einzelne Treffen.
Wärme, Zärtlichkeit, Freundlichkeit – all das tragen die Q’ero in sich. Und sie geben es weiter. Ich habe erlebt, wie dieses Projekt bei jedem Menschen etwas anderes auslöst – aber immer etwas Echtes, Bewegendes. Etwas, das wie ein Samen in einem wächst und hoffentlich irgendwann blüht.